Sia Liebermann über Fusion-Dance

Beim Vertanzt 2025 gibt es neben Balfolk und diversen anderen Tänzen auch wieder ein Thema: Fusion. Dieser Begriff hat ganz viele verschiedene Bedeutungen. Deshalb haben wir mit der Tanzlehrerin Sia Liebermann gesprochen und gefragt, was es im Bezug auf Tanzen damit auf sich hat.

 

Das Wichtigste in Kürze:

  • Beim Fusion tanzen nimmst du das, was du schon kannst, und dichtest Neues dazu
  • Dabei pflegst du die Verbindung mit deinem Gegenüber und gehst auf die Musik ein
  • Es ist kein eigener Stil mit vordefinierten Schritten, sondern ein gemeinsames Improvisieren
  • Vorkenntnisse brauchst du keine. Anfänger:innen und erfahrene Tänzer:innen finden hier ihren Platz
  • Alle Menschen sind willkommen, genau so wie sie sind, mit ihren ganz eigenen Präferenzen

 

Das Gespräch Anhören (auf Schweizerdeutsch)

 

Vielen Dank Sia, dass wir dir ein paar Fragen stellen dürfen.

Sehr gerne!

 

Was ist Fusion?

Fusion ist eine Paartanz-Form, ein Social Dance mit Schwerpunkt auf Improvisation. Es ist eine Tanzpartnerschaft, welche von der Verbindung der zwei (oder mehr) zusammen tanzenden Menschen inspiriert wird und gleichzeitig von der Musik lebt, die gerade gespielt wird. Das kann irgendwelche Musik sein. Im Grunde ist Fusion ein Ansatz zum Social Dance ohne feste Schritte, Rollen, oder Musik.

Das schafft eine Atmosphäre, in welcher nahezu alles möglich ist, weil nichts Konkretes erwartet wird, ausser dass wir zueinander Sorge tragen. Es bedingt, dass wir gut hinhören, den Moment erkennen, und wahrnehmen, was uns inspiriert, gemeinsam in Bewegung zu kommen.

 

Sia Liebermann ist eine Stimm- und Bewegungskünstlerin mit internationaler therapeutischer und künstlerischer Ausbildung. 

Als Sängerin, Tänzerin, Musikerin und Komponistin hat sie eine grosse Leidenschaft für Improvisation und Instant Composition. 

Sie unterrichtet derzeit Fusion Dance in der Schweiz, sowohl lokal als auch international. 

 

Was ist das Einzigartige an Fusion?

Fusion ist nicht an eine Tradition oder einen Musikstil gebunden. Es ist kein Tanzstil im eigentlichen Sinne, sondern aus meiner Perspektive vielmehr die Praxis, welche Stile entstehen lässt und geboren hat. 

Man stelle sich vor, da sind irgendwann einmal zwei Menschen zusammenkommen und haben sich in irgendeiner Form bewegt, vielleicht im Beisein eines weiteren Wesens, welches Klänge dazu kreiert hat. Jeder Mensch verfügt über ein grosses Repertoire an Bewegungen, nicht nur Erwachsene, sondern auch schon Kleinkinder. Dieses können sie mischen mit den Bewegungen eines anderen Wesens, und so kreieren sie eine Fusion von verschiedenen Musikalitäten in ihrem eigenen Körper. Und wenn das andere Menschen sehen, es ihnen gefällt, sie es sich abschauen und weiter pflegen, dann kann daraus ein Stil entstehen.

Diese Geburtsstätte von neuen Bewegungen ist es, was wir beim Fusion-Tanzen ganz gezielt kultivieren.

 

Du kultivierst das selbst, unterrichtest auch. Was motiviert dich, das zu machen? Was gefällt dir ganz persönlich an dieser Art zu tanzen?

Was mich besonders inspiriert, ist die Freiheit zur Eigenart. Ich kann dazu stossen, egal wer ich bin. Ich muss nichts Spezifisches sein oder mitbringen, um mich selbst als Tanzende und in einer Tanzpartnerschaft erfahren zu dürfen. Es gibt vielerorts gesellschaftliche Normen, welche nicht alle Menschen mit einschliessen. Solche Normen werden im Fusion aufgebrochen. Wir suchen eine Begegnung von Mensch zu Mensch, und dies wird ermöglicht durch die Bereitschaft, gemeinsam zu improvisieren. Insofern ist Fusion auch ein grosses Lernfeld, auf welchem wir unsere Fähigkeit, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten, auf spielerische und musikalische Weise erforschen können.

Gleichzeitig ist Fusion ein Ort, wo wir all unsere gesammelten musikalischen und tänzerischen Erfahrungen einbringen und unsere Fertigkeiten weiterentwickeln können. Es erlaubt ein Vermischen der verschiedenen Farben und Wesensarten, die wir in uns finden. Diese haben wir uns vielleicht in Tanzstunden verschiedener Traditionen angeeignet, in uns vertraut gemacht und daran grossen Spass gefunden. Auch ich tanze extrem gerne in einem konkreten Stil. Und im Fusion finde ich dann einen Raum, wo ich dies so einweben kann, wie es in meinem Körper gerade auffindbar ist und im Tanzen mit einer anderen Person gerade passt, ohne dass es ein Richtig und Falsch gäbe.

 

Wie gut muss ich Tanzen können, um an Fusion Spass zu haben?

Ich beobachte Menschen aus zwei Richtungen, welche es zum Fusion zieht. Es kann als zwei Extreme beschrieben werden.

Die Einen sind fortgeschrittene Paartänzer:innen, welche schon verschiedene Tanzstile gelernt haben und über ein grosses Bewegungsrepertoire verfügen. Sie spüren eine Sehnsucht, das Gelernte neu zu kombinieren oder losgelöst von einem fixen Stil oder Musikstandard anzuwenden. Im Fusion dürfen sie ausbrechen. Sie finden Raum für Freiheit, Kreativität und Improvisation sowie eine Vertiefung ihrer tänzerischen Fähigkeiten.

Die Anderen haben zwar Lust auf Paartanz, jedoch vorgefertigte Schritte und strikte Abfolgen erschwerten ihnen bisher den Zugang. Somit versperrt es ihnen auch den Zugang zu Social Dance im ursprünglichen Sinne. Vielleicht liegt es ihnen auch nicht, in einer spezifischen Musikalität zu bleiben. Sie spüren einen starken Wunsch danach, frei sein zu dürfen, und damit kommt oft auch eine grosse Improvisationsfähigkeit. Im Fusion dürfen sie sich selbst sein. Sie finden Schritte, Repertoire und Technik im eigenen Erforschen und Spielen mit anderen.

Das sind zwei Extreme, welche im Fusion ein Zuhause finden können. 

Wir brauchen keinen spezifischen Hintergrund und keine Vorkenntnisse, um Fusion tanzen zu können. Wir begegnen uns in einer tanzenden Partnerschaft und schauen, was passiert. Das kann so einfach sein wie eine Mutter, die sich zusammen mit ihrem Kind in den Armen ein bisschen zu Musik bewegt. Diese Authentizität und Qualität der Verbindung streben wir im Fusion an.

 

„Was mich so besonders an Fusion Dance inspiriert, ist die Freiheit zur Eigenart. Normen werden aufgebrochen.
Und durch die Bereitschaft, den Moment gemeinsam zu improvisieren, dürfen wir auf einmal so sein, uns bewegen und tänzerisch begegnen, wie oder wer wir hier & jetzt gerade sind.“

Sia Liebermann

 

Was finde ich im Fusion nicht?

Es kann schwierig sein, wenn klare Vorgaben erwartet werden, was gemacht werden soll. Im Fusion sagt dir niemand, wie du dich bewegen sollst. Diese Freiheit kann auch eine Herausforderung sein und es braucht allenfalls ein bisschen Zeit, um damit warm zu werden.

So gibt es zum Beispiel keine Norm, wie lange zusammen getanzt wird. In manchen Stilen gibt es dazu eine Tradition und klare Richtlinien. Im Tango sind es typischerweise drei bis fünf Lieder, im Salsa eher nur eines.

Des Weiteren gibt es im Fusion keine Gender-Normen. Wir ermutigen die Tanzenden, keine Annahmen zu treffen aufgrund des Geschlechts oder aufgrund davon, wie jemand aussieht oder sich bewegt. Zum Beispiel Annahmen darüber, ob eine Person führen oder folgen möchte.

Stattdessen kommunizieren wir aktiv miteinander. Ich kläre verbal oder nonverbal ab, was dir gefällt und wie du gerne mit mir tanzen möchtest. Ich bleibe im Tanz wachsam und achte darauf, wie du auf meine Bewegungen reagierst und wie es dir dabei geht. Dieses Hinhören gilt es stetig zu schärfen. Und gleichzeitig darf ich lernen zu spüren, wie es mir selbst im Tanz gerade geht, was mir passt und was nicht, und wie ich das ausdrücken kann.

Damit die tänzerische Freiheit bei allen aufblühen kann, braucht sie Leitplanken. Diese zeigen wir auf mit einem Code of Conduct, der akzeptables Verhalten formuliert. Er hilft zu verstehen, was es konkret bedeutet, respektvoll miteinander umzugehen, zueinander Sorge zu tragen, die Sicherheit von allen im Raum zu gewährleisten und keine Annahmen zu treffen.

 

Du wirst auch beim Vertanzt Workshops leiten. Wie passt Fusion zum Vertanzt?

Fusion schult die Grundfertigkeiten des Tanzens und kann so jeden Stil bereichern.

Neulich war ich West Coast Swing tanzen. Dort bin ich einem sehr guten Tänzer begegnet, welcher selbst auch unterrichtet. In unserem Tanz hat er bald angefangen, auch stilfremde Elemente einzubauen. Wenig später besuchte er einen Fusion-Workshop bei mir. Er sagte mir, Fusion sei für jeden Paartanz bereichernd. Nicht um den eigenen Stil oder die dazugehörige Kultur aufzugeben, sondern vielmehr um den Stil zu vertiefen mithilfe der drei Aspekte von Fusion: Musikalität, Verbindung und Improvisation.

 

Ist es auch Fusion, wenn ich lediglich zwei Stile mische? Das ist ja dann nicht komplett frei.

Ja total, auch das bewusste Mischen von zwei oder mehr Stilen ist eine Form von Fusion.

In der komplett freien Form von Fusion können wir sagen, dass es die zwei jeweiligen Wesen sind, die im Tanz fusionieren. Sie bringen alles mit, was sie an Bewegungssprachen im Leben bereits gelernt oder entwickelt haben, inklusive Tanzstile. Wenn sie erkennen, dass das Gegenüber eine Bewegung gut versteht, dann benutzen sie dieses gemeinsame Bewegungsrepertoire vielleicht verstärkt. Das kann ein erlernter Tanzstil sein, muss aber nicht.

Es ist vergleichbar mit einem Gespräch. Ich kann mich des gesamten Vokabulars bedienen, welches mein Gegenüber versteht. Auch dort könnte ich wild Wörter aus allen Sprachen mischen, welche ich kenne. Und das kann super lustig sein! [Spricht verschiedene Sprachen wild gemischt.] Oder wir sprechen vielleicht einen Satz auf Deutsch und den nächsten auf Englisch. Das mag weniger frei sein, dafür dient es einer gelungenen Unterhaltung.

Wenn ich beide Sprachen gut beherrsche und diese sehr präsent habe, fällt mir das aktive Mischen leichter. Dann kann ich gut sprechen bzw. im Tanz führen und/oder gestalten. In der folgenden Rolle (Follower) bin ich vor allem gefordert, gut zuzuhören, wiederzuerkennen und Verstandenes körperlich umzusetzen.

Beim Fusion tanzen bist du frei, alles zu verwenden, was du kennst. Auf die Art und Weise, wie du persönlich darin Bedeutung findest. So wie es sich für dich gut anfühlt oder dich neugierig macht. Und du bist gleichzeitig frei, einzutauchen in Dinge, die du noch nicht kennst.

 

Woher kommt eigentlich Fusion? Ich habe schon gehört, es entstamme dem Blues.

Es kommt darauf an, worauf genau wir uns beziehen mit dem Ausdruck Fusion. Je nachdem, mit wem wir sprechen, können wir dazu verschiedene Perspektiven hören. In meiner Wahrnehmung haben diese alle ihre Berechtigung. 

Die soziale Bewegung im Paartanz, welche irgendwann „Fusion Dance“ getauft wurde, entsprang tatsächlich von Blues-Tänzer:innen in Teilen der USA und war dabei stark geprägt von der queeren Community. Flouer Evelyne, Mark Carpenter oder Justin Riley sind international bekannte Fusion- (und Blues-) Tänzer:innen, die an der vordersten Front dieser Bewegung standen und dadurch (im Gegensatz zu mir) Experten sind, um die Frage der genauen Beziehung und Geschichte vom Blues-Tanz als Urstätte des Fusion Dance zu beantworten.

Wenn wir jedoch über die Praxis von Fusion sprechen, so sehe ich persönlich in jedem Tanzstil und jeder Tanzkultur solche Bewegungen, welche die Qualitäten von Fusion aktiv kultivieren, auch wenn sie sich selbst nicht so bezeichnen. Jeder Tanzstil wurde einmal geboren und wird weiterentwickelt, und dazu braucht es diese Qualitäten der Verbindung, der Improvisation und der Verkörperung von Musik. Fusion beschreibt den gemeinsamen Nenner all dieser Bewegungen und schliesst gleichzeitig alle Variationen mit ein. 

Für mich gehört der Begriff „Fusion“ niemandem alleine, und damit gehört er allen. Genau das ist es, was mich an Fusion begeistert. Niemand kann dir vorschreiben, wie du zu sein oder zu tanzen hast, und wie nicht. Solange du deine Mittanzenden respektierst und achtest. Würden wir im Fusion versuchen allgemeingültige Normen zu setzen, dann würde es den Spirit von Fusion meiner Meinung nach verlieren. In jeder Partnerschaft sollen die tanzenden Wesen neu entscheiden können, wie ihr Tanz aussehen soll, mit dem Konsent, den sie einander geben. Und dabei kann es manchmal auch wohltuend sein und Orientierung geben, der eigenen Freiheit einen konkreteren Rahmen zu verleihen. So entstehen verschiedene Räume, in denen Fusion unterschiedlich kultiviert werden kann.

 

Hast du eine Liedempfehlung für Fusion Tanzende?

Als Musikerin finde ich es extrem spannend, stark zu experimentieren. Ich probiere Fusion gerne aus zu Klängen, von welchen manche im ersten Moment denken könnten, sie seien gar nicht tanzbar. Das kann sogar nur eine Geräuschkulisse sein. Oder auch ein klassisches Stück wie eine Chopin-Etüde, oder ein Afrobeat-Lied, oder ein Radiohead-Song wie Karma Police. Wirklich querbeet. Dabei können wir spüren, was alles für Farben, Qualitäten und Texturen in uns inspiriert werden, und dass wir sowohl von unserer eigenen Musikalität als auch von der Musikalität um uns herum in Bewegung versetzt werden können.

 

Vielen Dank und bis zum Vertanzt!

Die Fragen gestellt und das Gespräch aufgezeichnet hat Raffael Krebs am 26. März 2025.